Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen

Reihe B: Quellen und Dokumente

Es lebe das Leben Band 6

Hubert Schneider (Hrsg.)
Es lebe das Leben...
Die Freimarks aus Bochum - eine deutsch-jüdische Familie. Briefe 1938-1946

354 Seiten
Preis: 29,90 €

ISBN: 3-89861-535-9

Essen: Klartext Verlag 2005


Zwischen Oktober 1938 und Oktober 1941 schrieben Karola und Simon Freimark aus Bochum 102 Briefe und Postkarten an ihre Kinder Stefanie und Gerhard, die wenige Tage vor der Pogromnacht zu Verwandten nach Philadelphia (USA) ausreisen konnten. Die Briefe dokumentieren in exemplarischer Weise, wie die nationalsozialistische Segregations- und Verdrängungspolitik vor Ort funktionierte und die vormals voll in die Gesellschaft integrierten deutschen Juden zunehmend isoliert wurden. Die Freimarks beschreiben nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern berichten über die Geschicke sehr vieler jüdischer Familien. Berichten. Immer wieder wird deutlich, dass dieser Verdrängungsmechanismus nur funktionierte, weil er von der Mehrheitsgesellschaft getragen wurde. Die Briefe schildern auch viele Details zur Gestaltung des jüdischen Lebens in Bochum, die bisher unbekannt waren (z.B. Schule, Gottesdienst, Umfang der Deportation jüdischer Männer nach dem 9.11.1938, Zwangarbeit der arbeitslosen jüdischen Männer, Errichtung der „Judenhäuser“ usw.).
Einmaligen Charakter erhält der Nachlass Freimark, weil über die Vorkriegs- und Kriegsbriefe der Eltern und einzelne Briefe an die Kinder von Freunden, Bekannten und Verwandten hinaus eine zweite Briefserie erhalten ist. Karola und Simon Freimark konnten nicht mehr emigrieren. Sie wurden im Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Nach ihrer Befreiung im Mai 1945 warteten sie in dem Displaced-Persons-Lager Deggendorf auf die Ausreise in die USA. Der Briefwechsel zwischen Eltern und Kindern wurde von Deggendorf aus sofort wieder aufgenommen. Überliefert sind 40 Briefe der Eltern und 25 Briefe der Kinder. Diese Briefserie gibt in exemplarischer Form Hinweise darauf, ob und wie es den Überlebenden der Lager gelang, mit diesen Erfahrungen zu leben. Die Rückkehr nach Bochum war ausgeschlossen. Man beobachtete und kommentierte zwar die Entwicklung in Deutschland, der Bruch war aber vollzogen. Auch für die Kinder gibt es keine Rückkehr nach Deutschland mehr. Und: Wie gingen die Emigranten damit um, dass es ihnen nicht gelang, die Deportation von Eltern oder Angehörigen zu verhindern?
Für die Bochumer Lokalgeschichte muss der Quellenwert der Freimark-Briefe beim heutigen Stand der Forschung als sehr hoch eingestuft werden. Sie erweitern unseren Kenntnisstand zum jüdischen Leben in Bochum im Detail. Mit ihren Verweisen auf das Verhalten und die Schicksale vieler jüdischer Familien in Bochum ist eine empirisch gestützte Ausdifferenzierung der Verhaltensweisen möglich. Das ist auch interessant für die überregionale Forschung.