Nationalsozialismus in Mülheim a.d. Ruhr

In keinem Bereich der Zeitgeschichte haben regional- und lokalhistorische Arbeiten eine solche Bedeutung erlangt wie bei der Erforschung des Nationalsozialismus, und auf kaum einem anderen Gebiet wird der Geschichtswissenschaft so viel breites öffentliches Interesse entgegengebracht wie den stadt- und regionalhistorischen Untersuchungen und Publikationen. Diese beiden Gesichtspunkte, die zeitgeschichtliche Bedeutung und das breite öffentliche Interesse, kennzeichnen die beiden Zielsetzungen, denen eine Analyse der Geschichte der Stadt Mülheim an der Ruhr in der Zeit des Nationalsozialismus gerecht werden muss.

Im lokalhistorisch begrenzten Raum und unter Zuhilfenahme der Mikroanalyse werden konfessionelle, sozialstrukturelle und wirtschaftliche Verhältnisse, eigene historische Traditionen, ideologische Prägungen und politische Konstellationen zu finden sein, die in ihrer Interdependenz Einsichten in der Frage nach dem Massenerfolg der Nationalsozialisten und den wechselseitigen Beziehungen zwischen Gesellschaft und Politik bringen können. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach den Wechselwirkungen von strukturellen Eigenheiten und politischer Herrschaft oder – anders betrachtet – die Frage nach den die Entfaltung und Verankerung des Nationalsozialismus hemmenden beziehungsweise begünstigenden lokalen Faktoren.

Im Falle der Stadt Mülheim an der Ruhr sind Spezifika auszumachen, deren Untersuchung auf eine Erweiterung des Kenntnisstandes nicht nur für die Stadtgeschichte, sondern auch für die allgemeine NS-Forschung bezüglich des Industriegebiets an der Ruhr und das durch historische Forschungen immer wieder zu schärfende Bild der NS-Herrschaft insgesamt hoffen lassen. Mülheim hatte sich um die Jahrhundertwende zu einer blühenden Industriestadt entwickelt, deren Potenzial sich nicht allein auf die Montanindustrie stützte, sondern im Bereich der Textil- und Lederindustrie ein weiteres Standbein besaß, welches vor allem Handel und Handwerk begünstigte. Für die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts können für Mülheim Rahmenbedingungen ausgemacht werden, die sich in ihrer demographischen Struktur von anderen Ruhrgebietsstädten insofern unterscheiden, als die Stadt nicht nur über eine abweichend große, stabile und alteingesessene Mittel- und Oberschicht bei gleichzeitiger Dominanz der Industriearbeiterschaft verfügte, sondern durch den überwiegend protestantischen Bevölkerungsanteil auch konfessionell eine Besonderheit im katholisch geprägten westlichen Ruhrgebiet darstellte. Mülheim wurde durch diese Kombination aus mittlerer Industrie und Gewerbe einerseits und überragender Großindustrie andererseits zur „Bürgerlichen“ unter den Industriestädten des Ruhrgebiets.

Daneben lassen die Wahlergebnisse des Jahres 1930 die Vermutung zu, dass Mülheim auch in seiner politischen Prägung eine abweichende Position im Ruhrgebietsvergleich einnimmt. Während die NSDAP bei den Reichstagswahlen im Ruhrgebiet zwar erhebliche Gewinne zuungunsten der bürgerlichen Parteien verzeichnete, wurde sie lediglich in Mülheim zur stärksten Partei mit 21,95% der Stimmen und lag damit sogar über dem Reichsdurchschnitt.

Die divergente Milieukonstellation und die Besonderheiten im Wahlverhalten der Stadt werden mit Hilfe milieutheoretischer Hypothesen in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden müssen, um der Frage nach der regionalen, konfessionellen und schichtungsabhängigen Prägung und ihrer Konstanz während der nationalsozialistischen Herrschaft nachgehen zu können. Dabei wird – der dualen Zielsetzung folgend – eine Überprüfung der milieutheoretischen Forschung und ihrer Aussagen zu resistenten Sozialgruppen und eine Differenzierung des Erkenntnisstands zu „Machtergreifung“ und Machtkonsolidierung in Mülheim angestrebt.

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Silvia Lagemann