"Auf rohen Eiern tanzen, ohne sie zu zerbrechen." Der Gewerkschafter Ludwig Rosenberg

Thema des Promotionsvorhabens ist die Erstellung einer Biographie Ludwig Rosenbergs, der zwischen 1962 und 1969 dem DGB vorstand. Damit ließe sich die von Borsdorf 1982 festgestellte und noch immer im wesentlichen vorhandene Lücke in der Biographik deutscher Gewerkschaftsführer zu einem Teil schließen.

Nicht die Biographie und mit ihr das Bedürfnis, Geschichte aus dem gelebten Leben anderer zu verstehen, sind in den 1970er Jahren in eine Krise geraten, wohl aber die wissenschaftliche Legitimation. Das ohnehin schwache theoretische Gerüst des Historismus, der den Menschen als eine Welt für sich ("homo clausus") begriff und in dessen Gefolge Biographien ein "Individualitäts- und Genieideal" transportierten (von Treitschke: "Männer machen die Geschichte"), wurde unter dem Eindruck eines struktur- oder sozialgeschichtlichen Ansatzes nachhaltig erschüttert. Struktur- und Sozialgeschichte, aber auch Erkenntnisse anderer Wissenschaften wie der Psychologie, thematisierten das Verhältnis des Menschen in seinen Bezügen zur Umwelt neu; die Integration der Biographik in die historischen Sozialwissenschaften wurde möglich. Hier soll, nach Bourdieu, das Leben nicht von seinem Ende her, sondern mit seinen "Plazierungen und Deplazierungen" in einem sich ständig verändernden Feld, mit seinen Brüchen, Inkonsistenzien und Diskontinuitäten, begriffen werden. Der Begriff vom Habitus, der insbesondere durch die Internalisierung der familiären Sozialisation als "zweiter Natur" geprägt wird, kann als Brücke zwischen gesellschaftlicher Eingebundenheit des Einzelnen und seinem konkreten Handeln und Erfahren dienen.

Die Biographie eines Gewerkschafters beschreibt notwendig nicht allein die Herausbildung seiner Identität und seines Habitus. Sie ist (auch) eine politische, sie ist aber zugleich eine sozialgeschichtliche Biographie, insofern sie im wesentlichen von sozialgeschichtlichen Prämissen geprägt ist. Die Handlungsmöglichkeiten des Individuums, also auch eines Gewerkschaftsfunktionärs, sind maßgeblich mitbestimmt durch seine sozialen Einbindungen mit ihrer Vielzahl der sich daraus ergebenden Rückkopplungen. Gewerkschafter sind nur selten Gegenstand der Biographik; das resultiert nicht allein aus dem Quellenproblem, sondern offenbar auch aus einem Desinteresse vor allem der traditionellen Biographik ihnen gegenüber. Dabei kann eine solche Biographie unter anderem Aufschlüsse über das Selbstverständnis der Gewerkschaftsführer, ihrer Auffassung von Individualität und Kollektivität, ihres Habitus liefern. Eine Biographie Rosenbergs, seit 1949 im Geschäftsführenden Bundesvorstand des DGB und 1962-69 Vorsitzender, kann, angewandt wie ein historisches "Senkblei" (Thomas Mann), Aufschlüsse bieten über die Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung innerhalb der höchsten Gremien des DGB, über die Mechanismen der Rekrutierung ihrer Angehörigen, über die Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen in einer gesellschaftlichen Teilelite. Rosenberg schien nicht prädestiniert, in seinem siebten Lebensjahrzehnt den Gewerkschaftsdachverband zu führen. Vieles sprach dagegen: seine bürgerliche Herkunft, seine Hirsch-Dunckersche Organisationsvergangenheit, sein Angestelltenberuf, sein Emigrantenschicksal, wohl auch sein jüdisches Elternhaus. Anhand der Biographie Rosenbergs lassen sich Aufschlüsse gewinnen über die gesellschaftliche Stellung eines Emigranten jüdischer Herkunft mit liberaler Organisationvergangenheit, über Mechanismen der sozialen Schließung und Öffnung, sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch in der Gesamtgesellschaft, in die Rosenberg spätestens als DGB-Vorsitzender hineinwirkte. Rosenberg war der letzte DGB-Vorsitzende, der nicht aus einer der Vorstandsetagen der Einzelgewerkschaften stammte, er war wie sein Amtsvorgänger Willi Richter zunächst Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB. In seine Amtszeit fielen auch die letzten größeren Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen Dachverband und Einzelgewerkschaften. Dabei gehörte Rosenberg zu jenen, die an dem Ende der vierziger Jahre zustandegekommenen Kompromiß entscheidend mitgewirkt hatten.

Was allgemein auf Gewerkschaftsführer zutrifft, trifft grundsätzlich auch auf Rosenberg zu: Er produzierte nicht viel von dem, was im herkömmlichen Sinne für eine Biographie verwendbar ist. Zwar wird vielfach betont, gerade Rosenberg hätte aufgrund von Herkunft und Bildung eine Autobiographie verfassen können, doch deutet - zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt - nichts darauf hin. Auch Tagebuchaufzeichnungen finden sich in den Nachlässen im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn nicht. Im AdsD liegen zwei Teile des Nachlasses: Im DGB-Archiv in der FES finden sich die 1969 von Rosenberg selbst und dem DGB an das DGB-Archiv übergebenen Akten. Der Bestand umfaßt in mittlerweile 12 Kästen Material aus den Jahren 1951 bis 1969, in erster Linie Vortrags- und Redemanuskripte sowie Zeitungsartikel. Daneben liegt im AdsD ein zweiter Teilnachlaß in der FES selbst. Hierbei handelt es sich um einen Aktenbestand, der zu einem großen Teil aus Akten der Jahre 1969 bis 1977 besteht, daneben aber etliche Vortrags- und Redemanuskripte aus den Jahren 1947 bis 1969. Hinzu kommen zahlreiche Fotoalben und Terminkalender der Jahre 1953 bis 1972, die teilweise Notizen über gespräche und dergleichen behandeln. Indizien deuten darauf hin, daß Rosenberg mindestens einen Teil seiner Unterlagen aus dem Exil mit nach Deutschland genommen hat. Wenn es diese Unterlagen noch gibt, so befinden sie sich möglicherweise bei den Nachfahren Rosenbergs, möglicherwese aber auch in Großbritannien. Über die Zeit der Emigration dürften sich Unterlagen im Archiv der Labour Party und vermutlich beim Arbeitsministerium, für das Rosenberg während des Krieges tätig war, finden. Für die unmittelbare Nachkriegszeit dürften die Archive der Alliierten (vor allem der Briten und der US-Amerikaner) einigen Aufschluß bieten, besonders in Hinsicht auf Gesprächsprotokolle, Schriftwechsel und vertrauliche Einschätzungen. Die allgemeinen Akten des DGB finden sich im DGB-Archiv in der FES, darunter die Protokolle des Sitzungen des Geschäftsführenden Bundesvorstands und der Abteilungen. Denkbar ist auch die mündliche oder schriftliche Befragung von Zeitzeugen, besonders den Mitarbeitern, beispielsweise Sekretärinnen, die sich ohne Schwierigkeiten namentlich feststellen lassen können. Ob es sinnvoll ist, die Akten des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EWG in Brüssel, dem Rosenberg zeitweise als Präsident bzw. Vizepräsident vorstand, und des IBFG in Amsterdam, dessen Vizepräsident er von 1963 bis 1969 war, heranzuziehen, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgesehen werden.

Dieses Projekt wurde durchgeführt von: Frank Ahland